Musikinstrumentenbau forderte Geographiekenntnisse

von Roland Schmidt

 
Das kleine Städtchen Markneukirchen spielte in den letzten dreihundertfünfzig Jahren gegenüber anderen Orten des Vogtlands eine besondere Rolle. Seit etwa 1650 war der damalige "Markt Neukirchen" zur neuen Heimat für viele Menschen geworden, die wegen ihres protestantischen Glaubens aus Böhmen geflohen waren. Sie trugen nicht nur zum zahlenmäßigen Wachstum der Stadtbevölkerung bei, sondern begründeten mit ihrer "löblichen Kunst" des Geigenbaus den späteren Weltruf des vogtländischen Musikwinkels. Der Geigenbau und später auch die Herstellung von Blech- und Holzinstrumenten erforderte ein hohes künstlerisches und handwerkliches Geschick, das in der Regel nicht allein in der väterlichen Werkstatt erworben werden konnte, sondern auch eine Menge Erkenntnisse aus anderen Ländern einschloß. Es war deshalb selbstverständlich, daß Lehrlinge und Gesellen längere Zeit im Ausland auf Wanderschaft waren, und viele Meister weilten ebenfalls wiederholt in der Fremde, um sich für die Arbeit neue Anregungen zu holen. Auch die Rohstoffe für die Instrumente kamen nur zu einem geringen Teil aus dem heimischen Vogtland. Das für die Geigen benötigte Ahorn- oder Buchenholz wurde aus Böhmen und aus der bayerischen Pfalz bezogen, die Därme für die Saitenproduktion wurden in London, Kopenhagen oder St. Petersburg gekauft, und auch der dem Lack der Geigen beigemengte Spiritus wurde auf ausländischen Märkten erworben.Schließlich wurde aber auch die Mehrzahl der Instrumente nicht zu Hause, sondern in allen Teilen Europas und seit Anfang des 19. Jahrhnuderts auch in Amerika verkauft. Kurzum: der Markneukirchner Musikinstrumentenbau war in einem hohen Maße von Internationalität geprägt wie kein anderes Gewerbe im damalige Vogtland. Kenntnisse über Geographie und Geschichte fremder Länder, über Sitten und Gebräuche anderer Völker waren deshalb für viele Markneukirch ner im täglichen Arbeitsprozeß - ob zu Hause in der Werkstatt oder unterwegs auf den Handelsschauplätzen - unverzichtbar. Die Markneukirchner Schule konnte diesen Erfordernissen jedoch nicht gerecht werden. Sie gliederte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Knabenschule mit 160 und eine Mädchenschule mit 200 Kindern, die von insgesamt zwei Lehrern in Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion unterrichtet wurden. Das Schulgebäude in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche war alt und baufällig. Unter diesen Umständen mußte das Unterrichtsniveau niedrig bleiben, zumal auch die Vorbildung der Lehrer gering war. In dieser Hinsicht unterschied sich die Markneukirchner Schule keineswegs von anderen Volksschulen im Vogtland. Doch was anderswo vielleicht noch anging, war für die Musikinstrumentenbauer in Markneukirchen viel zu wenig. Es war deshalb folgerichtig, daß sich der Rat der Stadt mit dieser Situation nicht einfach abfand. Am 2. April 1817 richtete er an die königliche Regierung in Dresden ein Gesuch um Abhilfe zu schaffen. Ging es dabei vordergründig um die um die Einrichtung einer dritten Lehrerstelle für die Schule, so wurden gleichzeitig die Anforderungen des Musikinstrumentenbaus an die Schule formuliert. So wurde die Beschränkung des Unterrichtsstoffes auf Lesen, Schreiben und Religion bemängelt, und es hieß weiter: "An Geschichte, Erdbeschreibung, Naturgeschichte, und andere, zur Ausbildung eines Menschen nöthige Wissenschaften kann nicht gedacht werden. Gleichwohl ist es für hiesiges Städtchen ein dringendes Bedürfniß, daß außer dem Lesen, Schreiben und Christenthume auch andre wissenschaftliche Gegenstände gelehrt werden, indem das hiesige Städtchen ein Fabrikort musikal. Instrumente ist, womit der Handel in die entferntesten Gegenden von Europa, ja selbst nach Amerika ... getrieben, dadurch aber das Bedürfnis für einen erweiterten Schulunterricht täglich fühlbarer wird." Der Unterricht in den genannten Fächern - hieß es weiter - sei für die Schüler notwendig, "damit sie denjenigen Grad der Ausbildung erlangen, der bey dem gegenwärtigen Zeitgeiste so wesentlich nöthig erscheint...", und der Nutzen, der damit erzielt werde, sei "für den hiesigen Ort, ja für das ganze (sächsische - R.S.) Vaterland von nicht zu berechnenden Folgen." Solch eindeutige schulpolitischen Forderungen einer Stadtverwaltung an die Landesregierung waren anfangs des 19. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich. Die besondere Situation der Stadt "Markt Neukirchen" - der heutige Name wird erst seit 1858 gebraucht - geben dafür aber eine plausible Erklärung. Aus den wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Musikinstrumentenbaus abgeleitet, verfaßten die Markneukirchner Stadtväter ein Dokument von bemerkenswerter Weitsicht, denn es war auf den weiteren Aufschwung des Hauptgewerbezweiges des Ortes gerichtet. Bei den zuständigen Schulbehörden stieß das Gesuch jedoch weitgehend auf taube Ohren. Über sechseinhalb Jahre zog sich der Streit um die Errichtung der dritten Lehrerstelle in Markneukirchen hin, und erst 1824 trat der dritte Lehrer seinen Dienst an. Anstelle des Neubaus einer Schule wurde das alte Gebäude 1822/23 nur notdürftig saniert. Der Wunsch nach mehr Realien im Unterricht blieb jedoch vorerst völlig ohne Echo. Erst das sächsische Volksschulgesetz von 1835 brachte bescheidene Ansätze in diese Richtung, den wirtschaftlichen Erfordernissen Markneukirchens wurden sie aber bei weitem nicht gerecht.


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