Zur Höheren Bürgerschule geweiht

von Roland Schmidt

 
Das Gebäude des heutigen Diesterweggymnasiums wurde am 22. April 1911 als II. Höhere Bürgerschule geweiht. Der 22. April 1911 war für das Schulwesen der Stadt Plauen ein großer Tag, denn mit einem feierlichen Akt wurde im damaligen Neubaugebiet am Sternplatz die II. Höhere Bürgerschule eingeweiht. Dieses neue Schulgebäude war die fünfte große Lehranstalt, die seit der Jahrhundertwende in Plauen mit städtischen Geldern errichtet worden war. Angesichts des rasanten Wachstums der Kommune war es jedoch ein dringendes Erfordernis. Das Plauener Volksschulwesen war vor 90 Jahren - wie überall in Sachsen - in höhere, mittlere und einfache Schulen gegliedert. Alle diese Schulen trugen die Bezeichnung "Bürgerschule", die jeweils vorangestellten Adjektive signalisierten aber die Unterschiede im Bildungsangebot und in der Dauer ihres Besuches. Die einfachen und die mittleren Volksschulen umfaßten jeweils acht Schuljahre, wobei die mittleren einen fakultativen Unterricht in einer Fremdsprache anboten. Die höheren Bürgerschulen - nicht zu verwechseln mit den Gymnasien - hatten einen neunjährigen Lehrgang für Knaben und einen zehnjährigen für Mädchen und erteilten größtenteils obligatorischen Unterricht in zwei fremden Sprachen. Eine solche höhere Bürgerschule hatte sich in Plauen seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt. Sie war zuerst im Schulhaus an der Syrastraße untergebracht, 1889 zog sie in das neue Gebäude an der Ziegel-, Karl- und Bärenstraße um. An diese Schulen werden sich nur noch ältere Plauener erinnern, denn beide wurden nach 1945 als Kriegsruinen abgerissen. Doch auch die Karlschule, wie die I. Bürgerschule später hieß, konnte die rasch steigende Zahl der Schüler bald nicht mehr fassen. 1906 zählte sie 1722 Schülerinnen und Schüler, die 32 Mädchen und 21 Knabenklassen besuchten. Aus Platzmangel waren bereits seit Ostern 1903 die vier obersten Klassen der Knabenabteilung ins alte Handelsschulgebäude an der Melanchthonstraße ausquartiert worden. Seit 1908 diente auch die neu erbaute 13. Bürgerschule, die heutige Mosenschule, als Ausweichquartier. Das weiter ungebrochene Interesse vieler Eltern, ihre Kinder auf eine höhere Bürgerschule zu schicken, erforderte aber neue Lösungen. Das Plauener Stadtparlament beschloß deshalb im Mai 1909, auf dem Bauplatz an der (heutigen) Diesterweg-/Ecke Comeniusstraße die II. Höhere Bürgerschule zu erbauen, und es bewilligte da- für 590 000 Mark. Wenige Wochen später legte die Stadt noch 19 000 Mark dazu, und im Sommer 1909 wurde die Baugrube aus gehoben. In zügigem Tempo wurde der 1. Bauabschnitt hochgezogen und eingerichtet, so dass das neue Schulhaus am 22. April 1911 von Oberbürgermeister Dr. Johannes Ferdinand Schmid übergeben werden konnte. Für den 2. Bauabschnitt, ein Erweiterungsbau mit 12 Klassenräumen, bewilligten die Stadtverordneten im Frühjahr 1913 nochmals 106 000 Mark. Er wurde im Juni 1914 fertiggestellt. Das gesamte Gebäude wurde allen Anforderungen gerecht, die da- mals an Schulbauten gestellt wurden. Es zählte 41 Klassen- und 2 Kombinationszimmer, einen speziellen Zeichensaal, Fachunterrichtsräume für Chemie und Physik mit entsprechenden Vorbereitungszimmern sowie Bibliotheks- und Lehrmittelzimmer. Durch einen runden Erker erfuhr das Direktorenzimmer nach außen eine besondere Betonung, und dem Geist der Zeit entsprechend gab es getrennte Zimmer für Lehrerinnen und Lehrer. Die Flurgänge des dreistöckigen Hauses zierten je zwei Trinkbrunnen. Ein Aquarium und ein Terrarium sorgten für zusätzlichen Schmuck. Die Turnhalle und der Schulhof grenzten an die jeweiligen Einrichtungen der 11. Bürgerschule (heute Dittesschule), und auch die Heizungs- und Sanitäranlagen waren vorbildlich. Der Choral "Wir haben dieses Haus gebaut", der den festlichen Weiheakt einleitete, konnte somit aus vollem Herzen gesungen werden. Nach der Ansprache von Schulrat Dr. Friedrich Wilhelm Putzger wurde Dr. Hugo Ewald Weller als neuer Direktor in sein Amt eingeführt, und am nächsten Tag begann der reguläre Unterricht. Er vermittelte den Schülern eine etwas umfassendere Allgemeinbildung als die mittleren und einfachen Volksschulen, mit denen die Mehrzahl der Plauener Schüler Vorlieb nehmen mußte, und das Abschlußzeugnis der Höheren Bürgerschule versprach bessere Chancen in handwerklichen und kaufmännischen Lehrberufen auf dem Arbeitsmarkt. Schon bald zeichnete sich aber eine zweite Aufgabe ab, die in dem neuen Schulhaus parallel zur höheren Bürgerschule gelöst werden sollte: die höhere Mädchenbildung. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war dieses Thema - wie überall in Deutschland - auch in Plauen kaum beachtet worden, und für junge Frauen blieb ein Abitur und ein nachfolgendes Universitätsstudium ein unerfüllbarer Traum. Die Privattöchterschule von Elise Zaubitz, die seit 1894 in der Windmühlenstraße existierte, konnte keine Lösung sein, so dass Staat und Kommune immer mehr in die Pflicht genommen wurden, öffentlich-rechtliche Möglichkeiten einer höheren Mädchenbildung zu schaffen. Diese Schülerinnen sollten eine gehobene Bildung erhalten, um als zukünftige Ehefrauen und Mütter besser ihre bürgerliche Familie repräsentieren zu können oder um als unverheiratete Frau den Weg in ein eigenständiges Berufsleben zu finden. Das Königreich Sachsen erließ dazu am 16. Juni 1910 ein Gesetz, das entsprechende Schulgründungen nach sich zog. In Plauen wurde der Direktor der II. Höheren Bürgerschule mit dieser Aufgabe betraut, und unter seiner Leitung wurde am 25. April 1912, fast genau ein Jahr nach der Weihe der II. Höheren Bürgerschule, die Höhere Mädchenschule gegründet. Sie zog mit in das Gebäude an der Diesterwegstraße ein, und auch die Direktion und der Lehrkörper bildeten über viele Jahre eine Personalunion mit der II. Höheren Bürgerschule, bevor 1918 beide Schulen ihre Eigenständigkeit erlangten. Die II. Höhere Bürgerschule erhielt 1920 den Namen des bedeutenden deutschen Pädagogen Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, und ein Jahr später wurde sie inhaltlich den anderen Plauener Volksschulen angeglichen. Sie verblieb mit der Höheren Mädchenschule unter einem Dach, bevor diese 1934 mit der Deutschen Oberschule vereinigt wurde. Nach Beseitigung von Kriegsschäden wurde das Gebäude auch nach 1945 von zwei getrennten Schulen genutzt, der Diesterweg-Grund- und der Diesterweg-Oberschule. Diese Oberschule war in den fünfziger Jahren neben der Rückert-Oberschule eine zum Abitur führende Schule und seit 1959 als Erweiterte Oberschule die einzige Bildungsanstalt dieser Art in der Stadt. 1974 wurde sie zur EOS "Erich Weinert" umbenannt, und seit 1990 ist die Schule in völlig neuer Struktur als "Diesterweg-Gymnasium" erkannt. Heute beherbergt das seit 1998 vollständig sanierte Gebäude auch das Vogtland-Kolleg und das Abendgymnasium. In den 90 Jahren ihres Bestehens hat die Diesterwegschule gute und schlechte Zeiten erlebt. Sie bot Raum für Unterricht verschiedener Epochen und Ideologien, sie war aber vor allem in den letzten 50 Jahren für viele Jugendliche aus Plauen und Umgebung der Startplatz in akademische Berufe. In diesem Sinne möge das weithin sichtbare Gebäude auch in den nächsten 90 Jahren fungieren!