Die ersten Bezirksschulinspektoren im Vogtland

von Roland Schmidt

 
Im Herbst 1874 nahmen zwei Herren im besten Mannesalter im Vogtland ihren Wohnsitz, um hohe staatliche Ämter anzutreten. Heinrich Gustav Seltmann und Johannes Ludwig Perthen waren vom sächsischen Minister für Kultus und öffentlichen Unterricht, Karl Friedrich Wilhelm von Gerber, zu Königlichen Bezirksschulinspektoren berufen und mit der Leitung der Schulinspektionsbezirke Plauen bzw. Auerbach betraut worden. Wie sie nahmen am 15. Oktober 1874 im gesamten Königreich Sachsen 23 weitere Pädagogen ihre Tätigkeit auf. Die Berufung der Bezirksschulinspektoren ergab sich aus mehreren Gesetzen, die die beiden Kammern des sächsischen Landtags ein anderthalbes Jahr vorher, im April 1873, verabschiedet hatten. Das Kirchengesetz (15.4.) erklärte das evangelisch-lutherische Landeskonsistorium zur obersten Kirchenbehörde des Königreiches und setzte neue Akzente im Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Das Gesetz über die Organisation der Behörden für die innere Verwaltung (21.4.) gliederte Sachsen in 26 Amtshauptmannschaften, und schließlich hatte das „Gesetz, das Volksschulwesen betreffend“ vom 26. April 1873 wichtige Voraussetzungen zur dringend notwendigen Leistungssteigerung in den Schulen für die Kinder des einfachen Volkes geschaffen. Eine wichtige Bedingung dafür war die Einführung der staatlichen Aufsicht und Kontrolle über die Schulen und ihre Lehrer. Seit der Reformation lag diese Aufgabe in den Händen der Kirche. Die Pfarrer der Kirchgemeinden waren die Dienstvorgesetzten der Lehrer, die Verantwortung über das Volksschulwesen der Ephorie (Kirchenbezirk) trugen die Superintendenten, und auf Landesebene übte das Oberkonsistorium als leitende Kirchenbehörde auch die Schulaufsicht aus. Die erste sächsische Verfassung von 1831 hatte zwar das Kultusministerium geschaffen, auf mittlerer und unterer Ebene aber an der kirchlichen Schulaufsicht festgehalten. Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts konnte das nicht mehr genügen. Die schnell voranschreitende Industrialisierung bedurfte besser gebildeter Arbeitskräfte, und der rasche Anstieg der Einwohnerzahlen in den Städten und größeren Landgemeinden stellte das Volksschulwesen vor qualitativ und quantitativ neue Herausforderungen. Die Leistungsfähigkeit der Volksschulen musste erhöht und ihr Bildungsgang durch eine obligatorische Fortbildungsschule verlängert werden. Verbindliche Lehrpläne mussten eingeführt werden, und auch in der Arbeit mit den Lehrern galt es neue Wege zu beschreiten. Die Durchsetzung dieser Punkte konnte von den Superintendenten gewissermaßen im Nebenamte nicht erwartet werden, sondern bedurfte der fachmännischen Schulaufsicht durch qualifizierte Pädagogen. Allerdings führte das Volksschulgesetz 1873 diese staatliche Schulaufsicht nur auf der mittleren Ebene ein. In den Dörfern blieb die Unterstellung des Lehrers unter den Pfarrer unangetastet. Eine Verordnung vom 26. August 1874 unterteilte das Königreich Sachsen zunächst in 26 Schulinspektionsbezirke. Zwei davon entfielen auf das Vogtland, und Plauen und Auerbach wurden Amtssitze der beiden Bezirksschulinspektoren. Ausschlaggebend für die territoriale Abgrenzung war die Zuständigkeit der Gerichtsämter für die einzelnen Schulorte, nicht die Zugehörigkeit zu einem Kirchenbezirk. Der Plauener Inspektionsbezirk war mit den Grenzen der Amtshauptmannschaft identisch. Er reichte von Neumark bis Gutenfürst, von Mühltroff bis Theuma, und er schloss auch die Stadt Plauen in sich ein. Er zählte 69 Volksschulen, an denen 186 Lehrer tätig waren und 16 430 Schüler unterrichtet wurden. Für sie war als Bezirksschulinspektor Heinrich Gustav Seltmann zuständig. Er war 1834 im osterzgebirgischen Schmiedeberg geboren worden und hatte in Leipzig seine ersten pädagogischen Erfahrungen gesammelt. Später leitete er die Volksschule in Schandau an der Elbe, zuletzt war er Pfarrer in Jöhstadt. Der Schulinspektionsbezirk Auerbach erstreckte sich über die Amtshauptmannschaften Auerbach und Oelsnitz. Irfersgrün im Norden und Schönberg im Süden, Wiedersberg im Westen und Morgenröthe im Osten bildeten die Eckpunkte des Territoriums, in dem es 118 Schulen mit 22 146 Schülern und 201 Lehrern gab. Der Bezirksschulinspektor Johannes Ludwig Perthen war damals 47 Jahre alt. Er stammte aus Großenhain und war bisher in Dresden tätig gewesen, zuletzt als Direktor einer großen Volksschule. Beide Staatsbeamte waren verpflichtet, die Schulen und Lehrer ihres Bezirkes zu besuchen und die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften für die Bildungsstätten zu kontrollieren. Sie besaßen Weisungsrecht. Sie mussten die Anstellung eines Lehrers billigen, und sie übten gegenüber den Volksschullehrern auch das Disziplinarrecht aus. Da sowohl die materiellen Belange der Schulen als auch Anstellung und Bezahlung der Lehrkräfte kommunale Angelegenheiten waren, benötigten sie enge Kontakte zu den Schulvorständen der Gemeinden. Darüber hinaus mussten die Inspektoren mit den kirchlichen Amtsträgern eng zusammenarbeiten, da die Pfarrer die Ortsschulaufsicht ausübten und die Superintendenten nach wie vor die Aufsicht über den Religionsunterricht innehatten. Die Bezirksschulinspektoren waren verpflichtet, einmal im Jahr mit ihren Lehrern eine pädagogische Konferenz durchzuführen, und natürlich mussten sie auch regelmäßig Berichte an das Ministerium in Dresden schreiben. Alle diese Aufgaben nahmen die Bezirkschulinspektoren in der Regel allein wahr. Sie verfügten in Plauen bzw. Auerbach nur über ein kleines Büro, das von einem Sekretär verwaltet wurde. Die Hospitationsreisen in die Dorfschulen erfolgten in einer einfachen Pferdedroschke. Lange Wege und schlechte Straßen machten sie beschwerlich, so dass das eigentlich gedachte Ziel, jede Schule wenigstens einmal im Schuljahr zu besuchen, keineswegs erfüllt wurde. Vor allem der Auerbacher Inspektor hatte dazu keine Chance. Zum einen hatte er wesentlich mehr Einrichtungen als sein Plauener Kollege zu kontrollieren, zum anderen hatte er die längeren Reisewege zu absolvieren. So war Schönberg am Kapellenberg offiziell mit 10 bis 12 und Wernitzgrün mit 7 Stunden Wegstrecke von Auerbach entfernt ausgewiesen. Der Auerbacher Schulinspektionsbezirk erwies sich als zu groß und wurde deshalb am 1. Dezember 1876 geteilt, indem der Inspektionsbezirk Oelsnitz geschaffen wurde. Für ihn wurde Gottlob Franz Baunack verantwortlich. Er war 1825 in Schönefeld bei Leipzig geboren worden und hatte in verschiedenen Schulen des Muldentales gearbeitet, bevor er ins Vogtland berufen wurde. Alle drei vogtländischen Bezirksschulinspektoren erfüllten ihre Aufgaben gewissenhaft. Als königstreue Staatsbeamte standen sie politisch im konservativen Lager. Ihr hoher pädagogischer Sachverstand ließ sie zu Respektspersonen werden, die die Schulpolitik des Kultusministeriums oft auch gegen den Widerstand einiger Ortschulvorstände durchsetzten. Bei aller Amtsautorität gingen sie offen auf die ihnen unterstellten Lehrer zu. Vor allem durch ihre aktive Mitarbeit in den verschiedenen Lehrervereinen bekamen sie ein Gespür für deren Sorgen und Nöte, das sie zur erfolgreichen Erfüllung ihrer Aufgaben befähigte. Das Ministerium in Dresden hat das offenbar auch so gesehen, denn im Gegensatz zum häufigen Wechsel der Bezirksschulinspektoren in anderen Teilen Sachsens blieben die drei vogtländischen Stellen personell sehr stabil besetzt. Perthen schied 1885 nach elfjähriger Tätigkeit durch den Tod aus seinem Amt, während Baunack 20 und Seltmann gar 26 Jahre in ihren Funktionen verblieben..