Plauener Gymnasiallehrer gründeten eine Witwen- und Waisenkasse

von Roland Schmidt

 
Das Thema Rente bewegt heute mehr denn je die Gemüter, und es ist in den Medien genauso präsent wie an den Stammtischen. Vor 150 Jahren war es noch völlig unbekannt, denn in Deutschland wurden erst ab 1881 mit Bismarcks Sozialgesetzgebung erste Schritte einer gesetzlichen Altersversorgung eingeleitet. Bis dahin gab es für die finanzielle Absicherung im Alter nur die Möglichkeit privater Vorsorge. Beim plötzlichen Tod des Ernährers - in der Regel der Ehemann bzw. Vater - stand die Witwe oft allein mit ihren Kindern da, und die plötzliche finanzielle Not brachte manche Familie sehr schnell ins gesellschaftliche Abseits. Das galt prinzipiell auch für die Lehrer des Plauener Gymnasiums. Sie wurden zwar im Vergleich zu den einfachen Volksschullehrern recht ordentlich bezahlt, doch waren auch sie vor den Wechselfällen des Lebens nicht gefeit. Sie griffen deshalb - analog zu ihren Kollegen an vielen anderen Gymnasien - zur Selbsthilfe und gründeten Anfang 1857 eine "Witwen- und Waisenkasse". Ihr Zweck war es, durch regelmäßige Mitgliedsbeiträge ein Stammkapital zu bilden und durch Zinsen zu vermehren. Beim Tod eines Mitgliedes wurde dann den Hinterbliebenen, in der Regel der Witwe und den noch unmündigen Kindern, eine jährliche Pension gezahlt. Der Betrag war relativ bescheiden, doch er half den betroffenen Familien ein gutes Stück weiter, um den täglichen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Mitgliedschaft in der Witwen- und Waisenkasse war freiwillig, doch der Nutzen einer solchen Einrichtung sprach sich schnell herum, so dass am Plauener Gymnasium innerhalb kurzer Zeit eine hundertprozentige Teilnahme erreicht wurde. Damit alles seine juristische Richtigkeit bekam, wurde ein Statut erarbeitet, das am 25. April 1857 vom Königlichen Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts gebilligt wurde. Mit der Führung der Witwen- und Waisenkasse wurde der Vicedirektor des Gymnasiums, Prof. Dr. Carl Friedrich Gotthold Meutzner (1809 - 1887) beauftragt. Er war in seiner dienstlichen Funktion für den Finanzhaushalt der Hohen Schule verantwortlich, und so lag es nahe, ihm auch diese Vertrauensstellung zu übertragen. Meutzner übte dieses Ehrenamt bis zu seiner Emeritierung 1880 aus, also 23 Jahre hindurch, und er konnte dabei auf eine stolze Bilanz der Kapitalentwicklung verweisen. 1857 bildeten 89 Taler und 17 Neugroschen den Grundstock der Kasse, und schon zwei Jahre später hatte sich die Summe verdreifacht. Am 31.12. 1859 standen 269 Taler, 21 Neugroschen und 4 Pfennige zu Buche, wovon 250 Taler in Wertpapieren zu vier Prozent Verzinsung angelegt und 19 Taler auf einem Konto der Sparkasse deponiert waren. Diese Strategie wurde auch in den folgenden Jahren weiter verfolgt, so dass das Stammkapital bis Ende 1870 auf fast 2000 Taler anwuchs. Doch Meutzner und seine Kollegen hatten nicht nur auf Wertpapiere gesetzt, sondern auch andere Fianzierungsmöglichkeiten erschlossen. So führten die Gymnasiasten 1863 die Tragödie "Ödipus auf Kolonos" von Sophokles auf und die Einnahmen in die Witwen- und Waisenkasse ab, Lehrer hielten zugunsten der Kasse öffentliche Vorträge, für das Ausstellen von Zeugnisduplikaten wurden entsprechende Aufschläge erhoben, und schließlich schlugen auch Spenden ehemaliger Schüler zu Buche. Gewiß war es eine glückliche Fügung des Schicksals, dass erst zehn Jahre nach der Gründung der Kasse die erste Auszahlung an eine Witwe und deren Kinder fällig wurde. Am 1. April 1867 war der Ordninarius der Tertia, Dr. Vogel, gestorben, und seine Witwe erhielt für das laufende Jahr 14 Taler, 17 Neugroschen und 15 Pfennige, und in den folgenden Jahren jeweils 25 Taler als Pension. 1869 wurde nach dem Tod des Zeichenlehrers Gustav Leonhard Heubner die zweite Witwenpension mit ebenfalls 25 Talern fällig. Nach dem Münzgesetz des Deutschen Reiches vom 9. Juli 1873 wurde anstelle der verschiedenen Taler-Währungen die Mark als einheitliche Währung eingeführt, so dass auch der Bestand der Witwen- und Waisenkasse am Plauener Gymnasium im Verhältnis 1 : 3 umgerechnet wurde. Aus den knapp 3000 Talern, die 1874 als Kapital ausgewiesen waren, wurden 1875 9000 Mark, die wiederum durch Wertpapierverzinsung sowie diverse Spenden angereichert wurden. Doch auch die Schattenseiten des Finanzmarktes machten um die Witwen- und Waisenkasse keinen Bogen: Durch Liquidation der Bade-Aktien wurden 1881 300 Mark eingebüßt. Es blieb glücklicherweise der einzige Verlust größeren Ausmaßes, so dass die Nachfolger Meutzners in der Kassenführung, die Gymnasiallehrer Leonhardt (bis 1888) sowie später Beez, Pötzschke, Baldauf und Günther nicht nur ein von Jahr zu Jahr steigendes Stammkapital registrieren, sondern auch auswärtige Finanzaktionen tätigen konnten. 1890 wurden für 500 Mark Leipziger Stadtanleihen gekauft und zwei Jahre später für die doppelte Summe Lausitzer Pfandbriefe. 1904 gab sich die Witwen- und Waisenkasse eine neue Satzung. Jedes Mitglied zahlte von nun an 9 Mark Jahresbeitrag, bei Neueintritt in die Kasse waren zwei Prozent des jeweiligen Gehalts als Einmalzahlung zu entrichten. Es wurde zwischen ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern unterschieden. Zu den ersteren gehörten die damals am Gymnasium angestellten Lehrer, während zu den außerordentlichen alle Lehrer zählten, die sich bereits im Ruhestand befanden oder an eine andere Schule gewechselt waren, jedoch noch Ansprüche gegenüber der Kasse hatten. Auch die Zahl der zu unterstützenden Witwen war gewachsen, 1907 waren es 14, in den folgenden Jahren kamen weitere dazu, so dass 1912 die Jahresbeiträge der Mitglieder erhöht werden mußten, um das Stammkapital nicht zu gefährden. Im Jahr 1915 umfaßte die Witwen- und Waisenkasse am Plauener Gymnasium ein Kapital von mehr als 32 000 Mark - damals eine wertmäßig bedeutende Summe, und die von den Zinsen finanzierten Jahrespensionen waren für die Witwen und unmündigen Kinder der verstorbenen Lehrer eine wichtige Überlebenshilfe. Das galt auch für die Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, bevor in der Inflationszeit das von den Gymnasiallehrern in 75 Jahren zum Nutzen der Hinterbliebenen Schritt für Schritt aufgebaute Kapital in wenigen Monaten in ein Nichts zerschmolz.