Langer Streit um das Widemannsche Stipendium am Plauener Lyceum

von Roland Schmidt

 
Zu den Aushängeschildern von Gelehrtenschulen früherer Jahrhunderte gehörten zahlreiche Stiftungen. Vermögende Männer und Frauen hatten bei einer Bank eine mehr oder weniger große Geldsumme als Stammkapital hinterlegt, dessen jährlich anfallende Zinsen sozial bedürftigen Schülern zugute kommen sollten. Die Stiftungen wurden teils noch zu Lebzeiten der Gönner begründet, teils waren sie testamentarisch festgelegt worden und traten nach dem Tode des Sponsoren in Kraft. In einem Statut hatte der Spender festgelegt, wer in den Genuß des Geldes kommen sollte, wer darüber zu entscheiden hatte und wer für die Buchführung zuständig war. In der Regel sahen die Verfügungen vor, sozial schwache Jugendliche zu unterstützen, die sich durch fleißiges Lernen und sittlich gutes Verhalten auszeichneten. Eine offiziell bestätigte Kommission, der meist der Bürgermeister der Stadt, der Superintendent, der Rektor der Hohen Schule und ein Mitglied der Spenderfamilie angehörten, traf die Auswahl unter mehreren Bewerbern, und eine weitere Person führte die Aufsicht über die Stiftungskasse. Die Mehrzahl der Fälle ging still und reibungslos über die Bühne, es gab aber auch Ausnahmen, die erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen geklärt werden konnten. Ein solcher Streit entspann sich um das Widemannsche Stipendium, das mehr als dreihundert Jahre, von 1616 bis zur Inflationszeit 1923, am Plauener Lyceum und späteren Gymnasium vergeben wurde. Es geht auf den Plauener Arzt Dr. Nikolaus Widemann zurück, der 1616 kinderlos verstorben war und Teile seines ansehnlichen Vermögens der Plauener Hohen Schule zu kommen ließ. Er vermachte ihr 236 wertvolle Bücher und legte so den Grundstock für die Schulbibliothek, und er begründete mit einem umfänglichen Stammkapital eine Familienstiftung, die an das Plauener Lyceum gebunden war. In Abkehr von der der Regel sollte die Zinsgelder kein sozial bedürftiger Schüler erhalten, sondern ein Knabe, der väter- oder mütterlicherseits mit Widemann blutsverwandt war. Er sollte - so hatte der Erblasser weiter bestimmt - "ein rechter, reiner und wahrhafter Lutheraner" sein, er sollte das Geld während eines fünfjährigen Studiums erhalten, und im Falle eines Medizinstudiums sollte die Unterstützung sogar 10 Jahre andauern. Zu alledem hatte Widemann noch verfügt, dass dieser Jugendliche entweder in Plauen geboren oder wenigstens hier zur Schule gegangen sein muss. Das war ein ganzes Bündel an Kriterien, und es war gar nicht leicht, Bewerber zu finden, die allen diesen Punkten gerecht wurden. Doch es ging um viel Geld, und das ließ manche Leute findig werden. Zum Beispiel Johann Friedrich Jugler (1714 - 1791), ein angesehener Jurist seiner Zeit, der als königlichGroßbritannischer und KurfürstlichBraunschweigischLüneburgischer Rat seit 1745 die Lüneburger Ritterakademie leitete. Er war in Wettaburg bei Naumburg aufgewachsen, wo sein Vater Pfarrer war. Seine Mutter stammte aus der Familie Widemann. Er war strenger Lutheraner und plante ein Jurastudium Er erfüllte also alle Bedingungen des Widemannschen Testaments bis auf eine. Doch dafür fand sich eine Lösung, indem er vom 21. Juni bis zum 26. November 1728 also nicht einmal ein halbes Jahr das Plauener Lyceum besuchte, um anschließend an die Fürsten schule in Schulpforta bei Naumburg zu wechseln. Juristisch stand dem Widemannschen Stipendium nichts mehr im Wege, doch damit nicht genug: Knapp 40 Jahre später wiederholte sich der Deal nach gleichem Muster bei seinem Sohn Johann Heinrich Jugler. Er war 1758 in Lüneburg geboren worden, und hatte die dortige Michaelisschule besucht. Vom 9. Juli bis zum 29. September 1777 nicht einmal ein Vierteljahr war er an der Plauener Hohen Schule eingeschrieben, um anschließend in Leipzig Medizin zu studieren. Damit hatte er nicht nur das Anrecht auf das Stipendium erworben, sondern infolge des Medizinstudiums auch die Garantie einer zehnjährigen Zahlung. Doch diesmal gab es Auseinandersetzungen, die vielfältige Ursachen hatten und erst nach 16 Jahren zu Juglers Gunsten entschieden wurden. Der erste Grund war zweifellos die Dreistigkeit, mit der Juglers Vater bereits 1775 zwei Jahre vor dem Aufenthalt seines Sohnes in Plauen beim Plauener Superintendenten Georg Friedrich Stranz (1715 1785) die Anwartschaft auf das Stipendium anmeldete. Stranz blieb die Antwort schuldig, so dass sich Vater Jugler im März 1776 an den Rektor des Lyceums, Gottlieb Wilhelm Irmisch, wandte und im gleichen Jahr eine offizielle Eingabe an den Rat der Stadt richtete. Doch auch die Stadtväter waren nicht aussagefähig, weil die Widemannschen Erben schon ein Viertel jahrhundert lang ihre Pflichten vernachlässigt und seit 1752 keine Rechnungsführung über die Stiftungsgelder vorgelegt hatten. Offenbar waren die Erben so viele Jahre nach dem Tode des Erblassers wenig daran interessiert, die beträchtlichen Vermögenswerte mit einem weitläufigen Verwandten zu teilen. Zahl reiche Mahnungen seitens der Stadtverwaltung hatten nichts bewirkt und erst die Androhung empfindlicher Strafen bewegte die Familie Widemann, 1778 genaue Auskunft über das Stiftungsvermögen zu geben. Superintendent Stranz hatte jedoch an der Sache offenbar auch kein Interesse mehr, und er ließ die Dokumente ein weiteres Jahr unbearbeitet liegen. Inzwischen war Johann Heinrich Jugler wohlbestallter Arzt in Boitzenburg geworden, doch sein Vater focht noch immer um das Widemannsche Stipendium für ihn. Er schaltete das Oberkonsistorium ein, das wiederum die Plauener Behörden aufforderte, Klarheit zu schaffen. Doch die Widemannschen Erben weigerten sich weiter, das Geld zu zahlen, obwohl die Rechtslage eindeutig war. Der Tod von Superintendent Stranz und der damals übliche jährliche Wechsel der Bürgermeister Gottlieb Ferdinand Schneider und Johann August Fritsch im Amt kamen ihnen dabei gelegen. Doch schließlich kam nach 16 Jahren eine Einigung zustande, und Johann Heinrich Jugler konnte die stolze Summe von 15 000 Gulden durch Zinsen aufgewertet und damals ein beträchtliches Kapital in Empfang nehmen. Rektor Irmisch war die ganze Angelegenheit sehr peinlich. Er entschuldigte sich in einem Brief vom 19. Dezember 1790 bei Juglers Vater für die Säumigkeit seines verstorbenen Vorgesetzten Stranz wie auch die dessen Nachfolgers Superintendent Johann Christian Hand (1743 1807). Mehr noch: Er wagte sogar, den zuweilen unleserlichen Brief Hands, mit dem dieser Jugler die glückliche Klärung des Problems mitteilen wollte, eigenmächtig abzuschreiben und diese Kopie nach Lüneburg zu schicken. Er wollte wenigstens hinsichtlich der äußeren Form das An sehen der Plauener Behörden wahren. Der Aufenthalt des jüngeren Jugler in Plauen bereicherte aber auch unsere Kenntnisse über unsere Heimatstadt um das Jahr 1777, da er viele seiner Eindrücke zu Papier gebracht und so der Nachwelt erhalten hat. So beschreibt er die Stadt und ihre Honoratioren genauso wie seine Ausflüge nach Kröstau, Rodersdorf oder Planschwitz. Und lange nach seinem Tod (1814) erregte er noch ein mal öffentliches Aufsehen, indem einer seiner Nachkommen 1879 unter dem Titel "Leipzig und seine Universität vor 100 Jahren" seine Aufzeichnungen veröffentlichte, die er in gleicher Weise wie in Plauen während seiner Studienjahre angefertigt hatte. Sie gehören zu den authentischsten Aussagen von Zeitgenossen über das alte Leipzig.