Fremdsprachen am Realgymnasium nach Plauener Ordnung

von Roland Schmidt

 
Die Realschulbildung nahm in Plauen in den letzten 150 Jahren eine wechselvolle Entwicklung. Zweimal trat sie jedoch mit Neuerungen hervor, die auch auf andere Schulen Sachsens ausstrahlten. Zum einen war das die 1854 vollzogene Verbindung der neu gegründeten Realschule mit dem bereits seit 1835 bestehenden Gymnasium, zum anderen die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeführte Abfolge des fremdsprachlichen Unterrichts an dem im Aufbau befindlichen Realgymnasium. Diese Regelung wich von der Sprachenfolge der Realgymnasien in anderen sächsischen Städten ab. Unter der Bezeichnung "Reformrealgymnasium Plauener Ordnung" fand sie bei Fachleuten zunächst ein geteiltes Echo, doch später bot dieses Modell immer häufiger Anlass, es auf andere Schulen zu übertragen. Worum ging es? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in allen deutschen Ländern neben dem Gymnasium mit seiner strikt altsprachlichen Bildungskonzeption eine zweite Form der höheren Schule herausgebildet, die den Naturwissenschaften und den modernen Fremdsprachen einen größeren Platz einräumte. Mit ihrer Bezeichnung "Realgymnasium" drückte sie einerseits die stärkere Hinwendung zu den "exakten Wissenschaften" aus, andererseits aber auch ihr Festhalten am Latein als der damals noch allmächtigen Sprache der Wissenschaft. Die Realgymnasien führten die Schüler vom 10. Lebensjahr in neun aufsteigenden Klassen zum Abitur und erfreuten sich allerorts wachsenden Zuspruchs. Das Interesse an diesem Bildungsgang erhöhte sich noch, als Kaiser Wilhelm II. am Ende des Jahres 1900 das Abitur des Realgymnasiums rechtlich dem des klassischen Gymnasiums gleichstellte. Das galt zwar zunächst nur für Preußen, doch das Königreich Sachsen hat diese Regelung kurze Zeit später übernommen und damit den Realgymnasiasten den Weg zu den vielfältigsten Universitätsstudien frei gemacht. Die meisten sächsischen Realgymnasien hielten dabei eisern an Latein als grundständiger Fremdsprache fest. Der Unterricht in dieser alten Sprache setzte in der Sexta ein und wurde über neun Jahre hindurch bis zum Abitur betrieben. Zwei Jahre später, ab Quarta, folgte Französisch und nochmals zwei Klassenstufen weiter - ab Obertertia - kam Englisch dazu. Neben dieser "Normalform" des Realgymnasiums hatte sich seit 1895 an der Dresdner Dreikönigsschule ein "Reformrealgymnasium" entwickelt. Der Zusatzbegriff "Reform" verwies auf eine geänderte Abfolge der Fremdsprachen. Grundständige Fremdsprache war Französisch, während Latein erst in der Untertertia und Englisch in der Obersekunda einsetzte. Diese Variante wurde als "Reformrealgymnasium Dresdner Ordnung" bekannt und fand später in Sachsen mehrere Nachahmer. Eigentlich war dem sächsischen Ministerium für Kultus und öffentlichen Unterricht daran gelegen, nur diese beiden Typen von Realgymnasien zu gestatten. Um so überraschender wurde für das sich in Aufbau befindliche Plauener Realgymnasium eine Ausnahme gemacht. Nach einem gescheiterten Versuch in den achtziger Jahren gab es in Plauen seit 1896 starke Bestrebungen, aus dem Schoße der sechsjährigen Realschule heraus durch Aufsetzen von drei Oberklassen ein Realgymnasium zu schaffen. Entscheidend dafür war der Nachweis soliden Lateinunterrichts in den oberen Klassen. Ministerielle Prüfungen konnten das bestätigen, und ab 1. Januar 1901 durfte sich die Schule an der Syrastraße offiziell "Realgymnasium mit Realschule" nennen. Doch schon im Vorfeld dieses Gründungsaktes - im Oktober 1897 - war für die generelle Sprachenfolge eine gegenüber anderen Realgymnasien abweichende Regelung getroffen worden. Was veranlasste die Regierung, entgegen der vorhergehenden Ankündigung doch eine dritte Form der Realgymnasien zu gestatten? Lag es daran, dass der für das höhere Schulwesen in Sachsen zuständige Ministerialbeamte, Prof. Dr. Theodor Vogel (1836 - 1912), ein gebürtiger Plauener war? Oder hatte die Stadt Plauen durch ihren damaligen Oberbürgermeister Dr. Rudolph Dittrich (1855 - 1929) so viele wirtschaftliche Gründe ihrer prosperierenden Spitzenindustrie für eine andere Sprachenfolge in die Waagschale werfen können? Oder hatte der Rektor des sich im Aufbau befindlichen Realgymnasiums, Prof. Dr. Christian Gottfried Achmed Scholtze (1840 - 1906), mit pädagogischen Argumenten überzeugen können? Die Akten geben darüber keine verlässliche Auskunft, denn alle drei erklärten später auf unterschiedlichen Wegen, nur als "Mitverfasser" am Plauener Konzept beteiligt gewesen zu sein. Doch wie dem auch sei - Tatsache war, dass im Oktober 1897 zwischen diesen drei Herren anlässlich einer Revision der ersten Plauener Realgymnasialklassen dieser Plan ausgehandelt wurde, wobei zweifellos Prof. Dr. Vogel schon von Amts wegen die größte Verantwortung trug. Sie legten fest, am Plauener Realgymnasium Französisch ab Sexta zu lehren, zwei Jahre später Latein folgen zu lassen und Englisch ab Obertertia in den Lehrplan aufzunehmen. Im Unterschied zur Dresdner Dreikönigsschule wurden die Schüler also jeweils ein Jahr früher und damit auch länger in Latein und Englisch unterrichtet, ohne dass sie im Gesamtlehrgang dieser Sprachen mehr Wochenstunden absolvierten. Dieser Plan trat Ostern 1898 in Kraft, sehr zum Ärger anderer sächsischer Realgymnasien, denen dieser Schritt verwehrt worden war. Der Vorteil der "Plauener Ordnung" lag auf der Hand. Sie legte nicht nur eine solidere Grundlagen für die zweite und dritte Fremdsprache als in den anderen Realgymnasien, sondern bot auch den Schülern eine bessere Basis im Englischen, die - aus welchen Gründen auch immer - entgegen der ursprünglichen Absicht die Schule schon nach insgesamt sechs Schuljahren (nach der Untersekunda) verließen und eine Anstellung in der Wirtschaft aufnahmen. Das musste andernorts Neid erregen, und die Angriffe auf die "Plauener Ordnung" dauerten noch lange fort. Der Geheime Schulrat Prof. Dr. Theodor Vogel geriet des öfteren in Erklärungsnot, warum er diese Ausnahmeregelung nicht nur gestattet, sondern maßgeblich selbst initiiert hatte. Oberbürgermeister Dr. Dittrich schied im Herbst 1899 aus dem Plauener Amt, wechselte nach Leipzig und war folglich für das Problem nicht mehr zuständig. Rektor Prof. Dr. Scholtze versteckte sich hinter dem Vorwand, sich seinem Dresdner Vorgesetzten gebeugt zu haben. Also wurde in Plauen nach dem vereinbarten Plan verfahren. Nachdem Prof. Dr. Vogel am 1. Oktober 1905 in den Ruhestand getreten und Rektor Prof. Dr. Scholtze gut ein Jahr später - am 15. Oktober 1906 - gestorben war, wurden im Kollegium des Plauener Realgymnasiums Stimmen laut, die "Plauener Ordnung" aufzugeben und vielmehr nach dem Plan der Dresdener Dreikönigsschule zu unterrichten. Das fand jedoch die entschiedene Ablehnung der Stadt Plauen als dem zuständigen Schulträger, die zu Recht auf die oben genannten Vorzüge des Plauener Modells verwies und keine Nachteile für die Schüler und für die Wirtschaftskraft der Stadt billigen konnte. So blieb der Fremdsprachenunterricht am Plauener Realgymnasium auch in der Folgezeit so organisiert, wie er im Herbst 1897 zwischen den Herren Vogel, Dittrich und Scholtze vereinbart worden war. Das diente nicht nur dem weiteren Wachstum der Schule, die zunächst noch im Gebäude an der Syrastraße verblieb, bevor sie im Oktober 1909 das neue Schulhaus unterhalb des Bärensteins - die heutige Friedensschule - bezog. Vielmehr wurde dieses Modell auch für andere sächsische Städte attraktiv, die Realgymnasien aufbauten und ebenfalls mit dem vorzeitigen Abgang von Schülern nach der Untersekunda rechnen mussten. Chemnitz, Crimmitschau, Glauchau, Pirna und Waldheim wagten diesen Schritt noch vor dem ersten Weltkrieg, und sie versprachen sich vom Fremdsprachenunterricht nach der "Plauener Ordnung" eine solidere Basis für die Schüler. Nach 1918 gewann dieses Modell eine noch größere Anziehungskraft, bevor die 1926 ministeriell verfügte Erhebung des Englischen zur ersten Fremdsprache in allen sächsischen Schulen prinzipiell neue Lösungen erforderte.