Einen Dreier für die große Leiche

von Roland Schmidt

 
Wer in alten Schuldokumenten liest, könnte zuweilen das Gruseln bekommen. Da ist von "ganzen Leichen", "großen halben Leichen", "kleinen halben Leichen" und "Viertelleichen" die Rede, und der Gedanke an Totenschändung und Leichenfledderei liegt nahe. Doch die heute von uns mit Schaudern gelesenen Begriffe gehörten vor etwa 200 Jahren durchaus zum gewöhnlichen Sprachgebrauch der Gymnasiasten, und auch die Schüler der Plauener Lehranstalt machten dabei keine Ausnahme, denn schließlich wurde auch ihr Alltag von diesen Begriffen nicht unwesentlich geprägt. Seit altersher gehörte es zu den Aufgaben der Schüler der Plauener Stadtschule, Begräbnisse gegen Bezahlung musikalisch zu umrahmen. Die Angehörigen des Verstorbenen bestellten beim Kantor einen Chor, der je nach Vermögen und gesellschaftlichem Ansehen des Toten unterschiedlich stark besetzt war. Bei Menschen aus dem einfachen Volk waren es - wenn überhaupt - drei oder vier Knaben, die zum Singen bestellt wurden, bei markanten Persönlichkeiten trat dagegen oft die gesamte Schülerschaft des Lyceums (später des Gymnasiums) an. Im 17. Und 18. Jahrhundert hatte sich dieses System soweit differenziert, daß vier Kategorien von Beerdigungen unterschieden wurden. Den Honoratioren der Stadt sowie den vermögenden Toten wurde die Ehre zuteil, unter dem Gesang der ganzen Schule ins Grab gesenkt zu werden. Für Verstorbene aus mittleren gesellschaftlichen Schichten gab es Begräbnisse mit der "großen halben" oder der "kleinen halben Schule", und für die weniger Vermögenden blieb die Möglichkeit einer "Viertelschule" auf ihrem letzten Weg. Je nachdem, wieviele Schüler der Einrichtung am Grab sangen, wurden die oben genannten Bezeichnungen gewählt. Mit der Zeit wurde aber nicht mehr die Schule als Bezugspunkt betrachtet, sondern der Tote, so daß im 19. Jahrhundert die Redewendung "ganze Leiche", "Viertelleiche" usw. üblich wurde. Dieses Singen bei Begräbnissen war bei den Beteiligten durchaus umstritten. Zum einen sahen die Lehrer in der Teilnahme der Schüler eine Möglichkeit, sie zur Achtung vor den Toten und zu christlicher Demut zu erziehen. Darüber hinaus betrachteten sie die Trauerzüge und Beerdigungen auch als einen Weg, die Ergebnisse ihrer Arbeit einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Zum anderen klagten sie mit Recht über die vielen Unterrichtsausfälle, die auf diese Weise zustande kamen. Wöchentlich zwei- bis dreimal mußten die Knaben zum Singen abgestellt werden, so daß der Unterricht entweder ganz gestrichen oder nur mit einem Teil der Klasse bestritten werden mußte. In Kriegszeiten oder bei Epidemien häuften sich die Einsätze, und die Ausfälle waren besonders groß. Das brachte Unruhe ins Schulhaus, und Superintendent Johann Christian Hand verfügte deshalb in seinem Regulativ für das Plauener Lyceum vom 16. Mai 1792, daß "bei den öffentlichen Leichen der sogenannten Viertel- und Halben Leichen nicht der ganze Coetus entlassen werden (darf), sondern nur die Currende nebst einigen wenigen Knaben." Aber auch die Schüler kamen dem "Leichendienst" nur mit zweispältigen Gefühlen nach. Sicher haben einige ihre Gesangstätigkeit auf dem Friedhof als gottgefälliges Werk betrachtet und sich dieser Aufgabe mit Fleiß unterzogen. Einige sahen darin auch einen Weg, der Langeweile mancher Unterrichtsstunde zu entgehen. Viele aber verrichteten das "Leichensingen" voller Mißmut, da sie ja in den meisten Fällen keinerlei Bezug zu dem Toten hatten und daher auch keinerlei Teilnahme fühlten. Außerdem mußten sie ihre Tätigkeit bei Wind und Wetter verrichten, und nicht selten waren sie auch gezwungen, über das gewohnte Maß hinaus zu singen, weil der Leichenbitter es so bestimmte. Daß es zuweilen zu Disziplinverstößen kam, die von den Lehrern geahndet wurden, lag auf der Hand. Doch so umstritten der "Leichendienst" bei Lehrern und Schülern auch immer war, in einem Punkt waren sich alle einig: Das Singen bei Begräbnissen war für sie eine wichtige Nebeneinkunft. Die Angehörigen des Verstorbenen übergaben der Schule die vereinbarte Summe an Bargeld, und die Schulleitung verteilte sie nach einem festgelegten Schlüssel an die Beteiligten. Je nach "Größe" der Leiche sowie nach der Klassenstufe gab es differenzierte Beträge, wobei den Primanern der höhere Anteil zustand. Wenn es sich dabei auch meist nur um "Dreier" handelte, so war der Zusatzverdienst doch sehr willkommen. Doch auch für die Lehrer waren die Gelder für die Begräbnisse eine wichtige Nebeneinnahme, mit der fest gerechnet wurde. So verzeichnete Rektor Adolf Friedrich Wim- mer, der das Lyceum von 1800 bis 1829 leitete, jährliche Nebeneinkünfte von 12 Talern von "großen Leichen". Für die übrigen Lehrer fiel die Summe bescheidener aus, je nachdem in welcher Position (Konrektor, Tertius, Quartus usw.) sie an der Schule angestellt waren. Die schrittweise Verbesserung der sozialen Situation der Lehrer, aber auch die wachsenden Ansprüche an einen störungsfreien Schulbetrieb führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Rückgang des "Leichendienstes" der Schüler, dennoch prägte er noch lange den Alltag am Plauener Gymnasium.