Ecce zur Totenehrung am Plauener Gymnasium

von Roland Schmidt

 
Selten werden Friedhöfe so häufig besucht wie in diesen Novembertagen. Seit fast 200 Jahren hat sich in den protestantischen Gegenden Deutschlands die schone Tradition herausgebildet, am Toten- oder Ewigkeitssonntag die Gräber verstorbener Familienangehöriger zu besuchen, Blumengebinde niederzulegen und der Toten in Stille zu gedenken. Nebliges Novemberwetter und von den Bäumen fallendes Laub bilden dafür den passenden Hintergrund.Am Plauener Gymnasium erfuhr im 19. Jahrhundert die Ehrung der Toten neben der genannten persönlichen noch eine öffentliche Form. Unter dem Rektor Prof Dr. Theodor Döhner, der die Schule von 1866 bis 1878 leitete, versammelten sich alljährlich Schüler, Lehrer und Freunde der Schule zu einem "Ecce", einem feierlichen Akt, um verstorbener Angehöriger des Gymnasiums zu gedenken. Döhner knüpfte damit an eine Tradition der sächsischen Fürstenschulen in Grimma und Meißen an und übertrug sie auf das Plauener Gymnasium.Ihren Namen verdankte die Veranstaltung dem feierlichen Choralgesang aus dem 16. Jahrhundert „Ecce quomodo moritur iustus". Unmittelbarer Anlass für das erste "Ecce", das sich wörtlich mit „Seht her, hier bin ich" übersetzen lässt, war der Tod des vogtländischen Dichters Julius Mosen am 10. Oktober 1867. Mosen hatte von 1817 bis 1822 das Plauener Lyceum, das spätere Gymnasium, besucht, und zwischen ihm und den Schülern und Lehrern des Plauener Gymnasiums bestand viele Jahre hindurch ein reger Kontakt. Regelmäßig sandten ihm die Primaner Geburtstagsgrüße ins ferne Oldenburg, und in einer seiner Danksagungen schrieb er, sie hätten ihn "erquickt wie der frische Waldduft seiner Heimat".Die schmerzliche Nachricht von Mosens Tod führte zum Entschluss, den berühmten Sohn der Anstalt in einer würdigen Feier zu ehren. Diese fand am 23. November 1867 statt. Musikalisch umrahmt von Teilen aus Mozarts Requiem hielt Rektor Döhner die Gedenkrede, und ein Bruder Mosens übergab der Schule ein Bildnis, das den Verstorbenen auf dem Totenbett zeigte. Darüber hinaus ehrte Döhner aber auch elf andere Schüler des Plauener Gymnasiums, die im Verlauf des vergangenen Jahres verschieden waren.Aus diesem "Ecce" entwickelte sich in den folgenden Jahren eine Tradition. Jeweils zum Totensonntag gedachte die Schule auf diese Art ihrer Verstorbenen. 1870 galt die Trauer vor allem den acht ehemaligen Schülern, die in den ersten Wochen des Deutsch-Französischen Krieges bei Wörth und Sedan gefallen waren. Geehrt wurde aber auch der ehemalige Konrektor des Gymnasiums, Heinrich Lindemann, der sein Engagement in der Revolution 1848/49 mit Berufsverbot büßen mußte und seinen Lebensunterhalt bis zu seinem Tode im August 1870 mit Privatstunden bestritt, gleichermaßen auch der Plauener Lehrer und Volksschriftsteller Johann Gottlieb Günnel, der am 31. März 1870 verstorben war.Ein Jahr später gedachten Lehrer und Schüler ihres früheren Rektors Johann Friedrich Palm, der die Schule von 1851 bis 1861 geleitet hatte, sowie des langjährigen Bürgermeisters der Stadt, Ernst Wilhelm Gottschald.1875 ehrte die Schulgemeinde mit ihrem "Ecce" unter anderen Constantin von Tischendorf, ihren wohl berühmtesten Schüler. Tischendorf stammte aus Lengenfeld und hatte die Plauener Schule von 1829 bis 1833 besucht. Als Theologe hatte er mehrere Reisen in den Nahen Osten unternommen, um alte Bibelhandschriften aufzuspüren. 1844 hatte er im Katharinenkloster auf dem Sinai einen sensationellen Fund gemacht, die bis dahin älteste bekannte handgeschriebene Bibel. 1874 war Tischendorf als Professor der Leipziger Universität gestorben.Zwei lahre später ga!t das "Ecce" neben anderen dem ehemaligen Rektor des Gymnasiums, Prof. Dr. Rudolf Dietsch, der von 1861 bis 1866 im Amt war und 1875 verstorben ist. In nahezu allen Jahren gab es auch Anlass der Schüler zu gedenken, die der Tod aus der aktuellen Schülerschaft herausgerissen hatte.1879 fand dann das vorerst letzte "Ecce" an der Schule statt. Die Gründe liegen zweifellos im Amtswechsel der Rektoren. Zwar führte der neue Rektor, Prof. Dr. Carl Schubart, die Veranstaltung zunächst noch einmal in gleicher Weise durch wie sein Vorgänger Döhner, später erfuhr sie jedoch keine Fortsetzungen. Erst 35 Jahre danach besann man sich wieder auf diese Tradition. Rektor Prof. Dr. Richard Kunze führte sie am Totensonntag des Jahres 1914 fort. Die hohe Zahl der Gefallenen zu Beginn des ersten Weltkrieges, die unter den ehemaligen Schülern zu beklagen war, mag ihn wohl dazu bewogen haben. Der nationalistische und chauvinistische Geist, der damals auch am Plauener Gymnasium herrschte, ließ auch das "Ecce" nicht unberührt. Auch in den zwanziger Jahren wurde die Tradition fortgeführt, bevor die Nazis sie vollends für ihren Totenkult vereinnahmten und missbrauchten.