Die Michaelisferien am Plauener Gymnasium

von Roland Schmidt

 
Die Ferien haben auch ihren Anfang genommen und dauern 14 Tage." Diese Worte lesen wir im Brief eines Plauener Schülers vom 26. September 1854. Der zwölfjährige Richard Eder schrieb sie seinem Vater, einem Plauener Kaufmann, der sich auf einer Geschäftsreise befand. Doch nicht nur über diese guten Aussichten berichtete er dem Vater, sondern auch über sein Zeugnis, das er soeben am Plauener Gymnasium erhalten hatte. Aus heutiger Sicht mag die Tatsache verwundern, dass es im September Zeugnisse gab und Schüler und Lehrer anschließend zwei Wochen frei hatten. Für die früheren Generationen war sie jedoch Bestandteil eines ganz normalen Schuljahresablaufes, der auf die jahrhundertealte Tradition des Michaelistages sowohl in der katholischen als auch evangelischen Kirche zurückgeht. Der Erzengel Michael gilt als Schutzpatron der Kirche, und ihm zu Ehren finden noch heute am 29. September beziehungsweise an dem jeweils vorangehenden Sonntag Michaelisfeiern in den christlichen Gemeinden beider Konfessionen statt. Er galt aber bis ins 19. Jahrhundert hinein auch als der Schutzengel des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation", wie bis 1806 die offizielle Bezeichnung für Deutschland lautete, und auch deshalb wurde er überall am 29. September geehrt. Für das Schulwesen entwickelte sich dieses Datum darüber hinaus zu einer wichtigen Zäsur im Schuljahr, die mit vielen wichtigen Ereignissen des Schulalltages verbunden war. Freilich passierten sie nicht alle am 29. September, vielmehr auch in der Woche vor beziehungsweise nach dem Fest, und der gewöhnliche Sprachgebrauch der Schulen hat mit „zu Michaelis" in der Regel den gesamten Zeitraum der letzten September- und ersten Oktoberwoche gemeint. Auch am Plauener Gymnasium galt Michaelis als Schnittpunkt zwischen der ersten und zweiten Schuljahreshälfte. Das Schuljahr begann nach Ostern, in der Regel also im April, und es dauerte bis Ostern des folgenden Jahres. Das erste Halbjahr erfuhr bis zum Herbstanfang nur zwei Unterbrechungen durch wenige unterrichtsfreie Tage zu Pfingsten und durch die Sommerferien. Sie dauerten von Mitte Juli bis Mitte August und wurden lange Zeit als „Hundstagsferien" bezeichnet: Danach lief das Schuljahr weiter, bis die zweiwöchigen Michaelisferien lockten. Freilich waren sie für viele Schüler nur unterrichtsfreie Tage. Sie halfen in ihren Heimatorten bei der Kartoffelernte oder verdingten sich anderweitig für wenig Geld als Arbeitskraft. Als Kaufmannssohn hatte das Richard Eder wohl nicht nötig, und so fügte er dem eingangs zitierten Satz im Brief an seinen Vater hinzu: „Der guten Mutter bin ich zwar manchmal im Wege." Ehe es jedoch die Schüler in die Ferien verabschiedet wurden, mußten sie sich der Michaelisprüfung unterziehen. Die gab es in allen Klassenstufen, und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie in ihrem Ausmaß etwas eingeschränkt. Sie galt als wichtiger Leistungsnachweis, der sich nachhaltig im „Michaeliszeugnis" niederschlug. Richard Eder hatte sie offenbar ganz gut überstanden. Er teilte dem Vater mit, dass seine Zensuren „leidlich" ausgefallen sind, denn „vieles hat sich gebessert, was in der Bürgerschule schlechter war... " Seine Noten bewegten sich zwischen 2b und 3a, der damals üblichen Differenzierung in gut (a) und schlecht (b), in der heutigen Umgangssprache ausgedrückt also zwischen einer „schlechten Zwei" und einer „guten Drei". Die Michaeliszensuren erschienen nicht nur auf dem gleichnamigen Zeugnis, sondern sie wirkten sich auch auf den Schulalltag des nächsten Halbjahres aus. Ihre Durchschnittswerte bestimmten die Sitzordnung im Klassenraum, so dass sich vom Klassenersten, dem Primus, bis zum Schwächsten eine peinlich eingehaltene Reihung ergab. Michaelis nahmen manche Schüler auch ihr Reifezeugnis entgegen. Die meisten Oberprimaner legten die Reifeprüfungen zwar vor Ostern ab und verließen mit dem Abitur die Schule – es gab jedoch auch die Möglichkeit, das Abitur erst im September zu erwerben. Sie wurde vor allem von den Schülern gerne wahrgenommen, die infolge längerer Krankheit Leistungsrückstände hatten. Aber auch für die Lehrer war Michaelis ein wichtiger Tag, und das nicht allein wegen der Ferien, sondern auch wegen einer möglichen Beförderung. Die Lehrer waren ja nicht im heute üblichen Sinne als gleichberechtigte Kollegeri angestellt, die lediglich nach der Zahl der Dienstjahre unterschiedlich vergütet wurden. Vielmehr galt für sie eine sorgfältig beachtete Reihenfolge als dritter, siebenter oder zehnter Lehrer, und je niedriger die Ordnungszahl ihrer Planstelle war, um so höher fiel die Besoldung aus. Es war also nicht unwichtig, ob man innerhalb des Kollegiums die fünfte oder die zehnte Planstelle einnahm. Über die Beförderungen entschied das Königliche Ministerium in Dresden, in der Regel brachten sie dem Lehrer nicht nur eine höhere Besoldung, sondern auch die Übernahme der nächst höheren Klassenstufe als Klassenlehrer. Schließlich wurden Michaelis auch viele neue Schulhäuser eingeweiht.Noch den ganzen Sommer hindurch hatten die Handwerker der verschiedenen Gewerke an der Fertigstellung gearbeitet, im September waren die Räume eingerichtet. worden, und Michaelis stieg dann die Eröffnungsfeier. So wurde auch der stattliche Gymnasialneubau in der Plauener Blücherstraße nicht zufällig in den letzten Septembertagen des Jahres 1911 geweiht. Leider wurde dieses Schulgebäude 1945 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. So war Michaelis bis ins 20. Jahrhundert hinein ein markanter Tag für das Schulwesen. Er war die gewichtige Zäsur im Ablauf des Schuljahres, an der viele Entscheidungen für den schulischen Alltag fielen. Für die Schüler war es vor allem der Tag, an dem es endlich Ferien gab. Und daran werden sich alle die erinnern, die Michaelis noch in der Schule erlebten.