1854 wurde dem Plauener Gymnasium eine Realschule angegliedert

von Roland Schmidt

 
Im Jahre 1854 erlebte Plauen eine für Sachsen schulpolitische Neuheit. Erstmals wurde ein bestehendes Gymnasium mit einer Realschule verbunden und als "Doppelanstalt" weitergeführt. "Ungeheuerlich" meinten dazu die Gegner der Fusion, und manche sprachen sogar vom "Anfang vom Ende". Doch es gab auch weitblickende Vertreter. Sie sahen in der neuen Schulform einen Weg in die Zukunft, der gerade für mittlere und kleine Städte gangbar war, und sie taten alles, das Experiment zum Erfolg zu führen. Die Ursache dieser Neuerung lag in der schnellen Industrialisierung des Landes. Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden, und das Netz der Eisenbahnen wurde immer enger geknüpft. Dieser Aufschwung verlangte technisches Wissen und Können, doch die Nachfrage nach leitendem und mittlerem technischen Personal war kaum zu befriedigen. Die Gymnasien mit ihrer vordergründig altsprachlichen Bildungskonzeption konnten dem Erfordernis der neuen Zeit nicht mehr gerecht werden, so dass seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auch in Sachsen der Ruf nach einer stärkeren Beachtung der Realien immer drängender geworden war. In den großen Städten des Königreiches - in Leipzig und Dresden - entstanden spezielle Realschulen, die neben den bestehenden Gymnasien existierten und vornehmlich Mathematik, Naturwissenschaften und eine moderne Fremdsprache als Unterrichtsfächer pflegten. In Leipzig geschah das ohne Latein, in Dresden wurde es als Wissenschaftssprache unverzichtbar gehalten. Der erbitterte Streit um das Für und Wider des Lateins wurde nie entschieden, er war letztlich auch müßig, denn beide Konzeptionen hatten ihre Berechtigung, und auch in Plauen wurden beide zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Realgymnasium (1909) und als Oberrealschule (1914 bzw. 1928) Wirklichkeit. Doch 70 Jahre vorher war daran nicht zu denken. Die mittleren und kleinen Städte des Königreiches konnten sich noch keine eigenständigen Realschulen leisten, und jeglicher Versuch, die vordergründig altsprachliche Bildungskonzeption des Gymnasien wenigstens etwas zugunsten eines stärkeren mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts zu verändern, stieß in konservativen Kreisen der Gesellschaft auf scharfe Ablehnung. Doch auch die Gymnasiallehrer - in der Regel ausgebildete Altphilologen - waren sorgsam darauf bedacht, durch starres Festhalten an der Vorherrschaft des Latein- und Griechischunterrichts die Exklusivität ihrer Bildungsstätte zu wahren. Es war deshalb schon ein bemerkenswerter Fortschritt, dass es 1835 erstmals gelang, am Plauener Gymnasium einen "mathematicus" anzustellen. Doch die wirtschaftliche Entwicklung verlangte immer dringender die naturwissenschaftlich und technisch gebildeten Kräfte. Die Landesregierung veranlaßte deshalb 1836 die Gründung von drei "Königlichen Gewerbschulen". Sie nahmen 14jährige Knaben auf und unterwiesen sie in einem drei-, später vierjährigen Lehrgang vor allem in Mathematik, Physik, Chemie, Technischem und Freihandzeichnen sowie in Maschinenkunde. Die Schüler sollten befähigt werden, ein technisches Studium in Dresden, Freiberg oder Tharandt aufzunehmen oder als mittleres technisches Personal in einer Fabrik zu arbeiten. Neben Chemnitz und Zittau wurde auch Plauen Sitz einer solchen Einrichtung. Sie nahm am 16. Mai 1836 im "Voigtländischen Kreisschulhaus" am Schulberg ihre Tätigkeit auf, später siedelte sie in die neue Bürgerschule an der Syrastraße um, und 1848 bezog sie eigene Räume in der Seminarstraße. Sie wurde von Prof. Dr. Christian Gottlieb Pfretzschner geleitet, der hauptamtlich als Prorektor am Gymnasium angestellt war. In den ersten Jahren nahm die Schule einen erfreulichen Aufschwung, doch seit den vierziger Jahren geriet ihre berufsvorbereitende Zielstellung immer mehr in Gefahr. Viele Knaben verließen die Schule nach nur ein- oder zweijährigem Besuch, so dass die beiden oberen Jahrgänge nur schwach besetzt blieben. Von den 397 Schülern, die zwischen 1843 und 1853 in die Gewerbschule aufgenommen worden waren, gingen 337 (also rund 85 Prozent) vorzeitig ab. Sie hatten gar keine Berufsvorbereitung erstrebt, sondern viel mehr eine bessere Allgemeinbildung, vor allem auf mathematisch-naturwissenschaftlichem Gebiet. Das aber wäre Aufgabe einer städtischen Realschule gewesen. Eine solche Anstalt neben dem Gymnasium als eigenständige Anstalt zu unterhalten, hätte die Finanzkraft der Stadt weit überfordert, zumal auch das Gymnasium Mitte des 19. Jahrhunderts mit durchschnittlich 100 anstatt der erhofften 150 Schüler unterhalb der wirtschaftlichen Rentabilität blieb. So wurde die Idee geboren, die Gewerbschule in eine sechsjährige Realschule zu verwandeln und diese dem Gymnasium anzugliedern. Rektor Prof. Dr. Johann Friedrich Palm, der dem Gymnasium seit 1850 vorstand, war der geeignete Mann, diese Fusion zu vollziehen. Er galt zwar als politisch konservativ, doch er besaß ein Gespür für Zukunftsträchtiges. Schon in den Revolutionsjahren 1848/49 hatte er sich für eine vorsichtige Öffnung der Gymnasien zugunsten der Naturwissenschaften ausgesprochen, und folgerichtig unterzog er sich 1854 der weit umfassenderen Aufgabe, dem Gymnasium eine Realschule anzugliedern, mit hohem Engagement. Dabei beschritt er neue Bahnen, indem er für alle Schüler - unabhängig von ihrem späteren Bildungsweg - in den beiden unteren Klassen eine einheitliche Bildung mit Latein als obligatorischer Fremdsprache konzipierte. Damit hielt er die Entscheidung für beide Richtungen - Gymnasium oder Realschule - bis zum vollendeten 12. Lebensjahr der Schüler offen. In der nachfolgenden einjährigen Quarta wurden beide Gruppen noch in vielen Fächern gemeinsam unterrichtet, allerdings setzte für die Gymnasiasten Griechisch und für die Realschüler Französisch und Englisch ein. Die oberen drei Gymnasialklassen waren jeweils zweijährig, so dass das Abitur nach insgesamt neun Schuljahren abgelegt wurde. Dagegen wurde die Reife der Realschule nach insgesamt sechsjährigem Lehrgang erreicht. Mit dieser inhaltlichen Verzahnung beider Schulformen hatte Palm auch die innere Struktur der Einrichtung gefestigt, und die gemeinsame Arbeit der Lehrer in beiden Schulformen ließ allmählich auch noch immer bestehende gegenseitige Vorurteile schwinden. Dieses neue Konzept eines mit einer Realschule verbundenen Gymnasiums fand doppelte Anerkennung: Zum einen zählte die Plauener Hohe Schule ab 1854 172 Schüler, und in der Folgezeit wurde die Schule immer mehr angenommen, so dass sie 1867 von 278 Knaben besucht wurde. Zum anderen wurde das Plauener Beispiel Vorbild für andere vergleichbare Städte in Sachsen. So übernahm Zittau vollinhaltlich die Palmsche Konzeption, als es 1855 eine ähnliche "Doppelanstalt" schuf, und auch in anderen Städten entstanden "gemischte" Schulen der unterschiedlichsten Art. Die bildungspolitische Premiere, die 1854 das Plauener Gymnasium erlebte, war somit keine Eintagsfliege geblieben, sondern hatte als zukunftsträchtige Lösung für mittlere und kleine Städte Sachsens landesweite Bedeutung erlangt.