Das neue Waisenhaus in der Plauener Gartenstraße
Der 12. Oktober 1835 war für die Plauener Stadtväter ein Tag unerwarteter Freude. Er brachte die Nachricht über die Stiftung der ansehnlichen Summe von 5000 Talern zugunsten des Plauener Waisenhauses. Die Wohltäterin war die Witwe Johanna Friederike Hasse, geb. Facilides, die wenige Tage vorher verstorben war. Kurz vor ihrem Tod hatte sie ihrem Sohn mündlich ihren letzten Willen offenbart, der zum einen diese Schenkung zum anderen weitere finanzielle Mittel für die Armenkasse beinhaltete. Ein Legat in dieser Höhe war sicher nicht alltäglich, doch die Stifterin gehörte zu den vermögenden Kreisen der Stadt, wofür sowohl ihr Geburtsname Facilides, eine alte Plauener Manufaktur- und Fabrikantenfamilie, als auch ihre beiden Ehen sprachen. Ihr erster Mann war der Reusaer Rittergutsbesitzer Schneider, und nach dessen Tod heiratete sie den Zollinspektor Hasse, der sie als Witwe hinterließ. Der Plauener Stadtrat mußte nicht lange überlegen, wie diese Gelder am besten zu nutzen seien. Das alte Waisenhaus, das aus der von Ostenschen Stiftung finanziert wurde und seit 1767 an der Elsterbrücke bestand, war mehr als baufällig geworden. Außerdem genügte es auch in seinen räumlichen und hygienischen Bedingungen nicht mehr den Erfordernissen der Zeit. Nun eröffnete sich die Möglichkeit, durch einen Neubau bzw. durch den Ankauf eines besser geeigneten Hauses dieses Problem zu lösen. Doch dieser schnellen Entscheidung stand die vogtländische Ritterschaft, die nach von Ostens letztem Willen zu gleichen Teilen wie die Stadt Plauen das Entscheidungsrecht über die Anstalt hatte, ablehnend gegenüber. Sie war über die neuerliche Schenkung der Johanna Friederike Hasse nicht informiert worden und verweigerte deshalb zunächst das Einverständnis für alle Neuerungspläne. Doch dieser "Sturm im Wasserglas" ebbte schnell wieder ab, zumal auch die Direktion der Kreishauptmannschaft Zwickau, deren Einverständnis zur Stiftungsannahme eingeholt werden mußte, grünes Licht gegeben hatte, eine gründliche Klärung der Waisenhausfrage herbeizuführen. Im Herbst und Winter 1835/36 gingen im Plauener Rathaus mehrere Grundstücksangebote ein, und sowohl die Stadt als auch die Ritterschaft unterzogen die einzelnen Objekte einer gründlichen Prüfung. Drei Grundstücke bzw. Häuser wiesen Mängel auf, deren Beseitigung die vorhandenen Mittel überschritten hätte. Ein viertes Angebot erwies sich jedoch als Glücksfall, und das in mehrfacher Hinsicht. Es handelte sich um das Kellersche Grundstück in der Gartenstraße 1. Es verfügte über die gewünschte Grundfläche, das Gebäude befand sich in vorzüglichem Zustand und der Preis von 2722 Talern war äußerst günstig. Doch die Anschaffungskosten verringerten sich noch weiter. Der bisherige Grundstücksbesitzer, Kaufmann Christian Keller, hatte von Anfang an in Aussicht gestellt, bei gedachter Verwendung des Anwesens als Waisenhaus 400 Taler im Kaufpreis nachzulassen. Schließlich stellte der Plauener Stadtrat und derzeitige Vorsteher des Waisenhauses, I. G. Heynig, aus gleichem Grund 1000 Taler zur Verfügung. Damit blieb nur die Restsumme von 1322 Talern zu zahlen - ein wahrer Segen für die Anstalt, konnte doch das übrige Geld der Hasseschen Schenkung direkt den Kindern zugute kommen. Noch einmal verzögerte sich der notwendige Umbau und die geplante Erweiterung des Hauses um eine Etage wegen pedantischer Einwände der vogtländischen Ritterschaft. Am 25. April 1836 konnten jedoch die Arbeiten beginnen. Sie dauerten den ganzen Sommer hindurch an, gleichzeitig wurde die erforderliche Innenausstattung besorgt. Als wichtigste Neuerung wurden anstelle der bisherigen Strohsäcke Seegrasmatratzen gekauft, und aus der Versteigerung des Inventars des alten Waisenhauses wurde der nötige Hausrat des neuen Domizils bezahlt. Am 25. September 1836 war es endlich soweit. Auf den Tag genau 69 Jahre nach der Eröffnung des ersten Plauener Waisenhauses an der Elsterbrücke konnte die neue Anstalt in der Gartenstraße geweiht werden. Unter reger Anteilnahme der Plauener Bürger zogen die Waisenkinder, 11 Knaben und 9 Mädchen aus ihrem alten in das neue Heim, und Superintendent Christian Anton August Fiedler hielt die Weihepredigt. Er dankte dem ursprünglichen Stifter der Anstalt, Johann Andreas von Osten, dessen Bildnis den Saal des neuen Hauses schmückte. Später wurde eine Straße im unmittelbaren Umfeld des Waisenhauses nach ihm benannt, die heute noch existierende Ostenstraße. Gleichzeitig dankte Fiedler der neuerlichen Stifterin, Johanna Friederike Hasse, deren Geld den neuen und für die damalige Zeit modernen Standort ermöglicht hatte. Das Hauptgebäude beherbergte drei Stuben, vier Kammern, eine Küche sowie Keller- und Bodenräume, in einem Seitengebäude befanden sich eine Stube, ein Kammer und ein Bodenraum. Die größte Freude bei den Kindern löste aber der Garten aus, in dem ein Gartenhaus (die ehemalige Gärtnerwohnung), eine Laube und ein Gewächshaus standen. Er bot sowohl Auslauf- und Spielfläche für die Kinder als auch genügend Platz für Gemüsebeete, eine wichtige Basis für die Arbeitserziehung und für die Verbesserung des Speiseplanes der durchschnittlich 20 Kinder. Diese relativ niedrige Kinderzahl konnte auch weiterhin den Bedarf nicht decken. Sie erlaubte auch nicht - wie in Dresden und Leipzig praktiziert - eine eigene Waisenhausschule. Vielmehr wurden die Kinder zunächst in der Torschule am Straßberger Tor und ab 1841 in der städtischen Bürgerschule an der Syra unterrichtet. Speziell vorgebildete Erzieher gab es auch nicht, so dass der Waisenvater weiterhin aus einer Reihe von Bewerbern aus dem Handwerksstand gewählt wurde. 1836 fiel die Entscheidung zugunsten des Schneidermeisters Karl Gottlieb Spindler, zehn Jahre später wurde er von dem Webermeister Karl Heinrich Hübner abgelöst. In dieser Form bestand das zweite Plauener Waisenhaus 73 Jahre lang, bis Ende September 1909. Dann mußte es aufgelöst werden, weil zum einen das Gebäude stark baufällig geworden war und zum anderen die Finanzquelle der von Ostenschen Waisenhausstiftung, das Rittergut Raschau, nicht mehr genügend Geld erwirtschaftete. Die Stadt Plauen faßte deshalb in Einvernehmen mit der Ritterschaft den Beschluß, Gebäude und Grundstück in der Gartenstraße zu verpachten und die entsprechenden Einnahmen für den Bau eines neuen Waisenhauses zu verwenden. Diese Überlegungen führten zur Gründung des Friedrich-Krause-Stiftes, das am 29. Oktober 1911 in Reusa seine Tätigkeit aufnahm.